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Fichtes ursprüngliche Einsicht und ihre Folgen


Fichtes ursprüngliche Einsicht und ihre Folgen

Dieter Henrich (1927–2022) zu Ehren

Kurz vor Vollendung seines 95. Lebensjahres ist Dieter Henrich am 17. Dezember 2022 verstorben. Die Fichte-Forschung verdankt ihm Außerordentliches. 

Selten hat eine relativ kleine Studie zu einem eng umgrenzten Thema der neuzeitlichen Philosophie eine so intensive und bis in die aktuelle Gegenwart reichende Wirkung entfaltet wie Dieter Henrichs zuerst im Jahre 1966 erschienene Untersuchung Fichtes ursprüngliche Einsicht. Sie war eine unzeitgemäße Betrachtung. Mit ihr wandte sich Henrich gegen den in der akademischen Philosophie herrschenden Zeitgeist. Im langen Schatten Hegels und der noch andauernden Wirkung Heideggers sowie der sich zunehmend behauptenden sprachanalytischen Philosophie galt die Philosophie Fichtes als obsolet und überholt. Missachtet und weitgehend ignoriert waren damit die Fichtesche Theorie der Subjektivität und ihr Prinzip des Selbstbewusstseins. Dem trat Henrich mit dem Nachweis entgegen, dass auf diese Weise ein Problem aus dem Blick gebracht worden war, das nicht nur für die philosophiehistorische Forschung, sondern auch für die systematische Philosophie von eminenter Bedeutung ist. Sie ist in der Art und Weise zu sehen, wie Fichte als erster die logische Struktur von Selbstbewusstsein beschrieben hat. Selbstbewusstsein ist nicht nach dem Modell eines intentional-reflexiven Aktes, durch den das Subjekt sich selbst zum Objekt seines Bewusstseins macht, zu beschreiben. Eine solche Beschreibung, so zeigte Henrich, setzt voraus, was zu erklären ist oder führt zu infiniten Regressen. Selbstbewusstsein ist stattdessen als ein performativ-selbstbezüglicher Akt zu begreifen, in dem seine Wirklichkeit und das Wissen von ihm unmittelbar eins sind. Das ist der Gehalt des Fichteschen Satzes: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein“. Er ist der Ausdruck von Fichtes ursprünglicher Einsicht. 

Henrichs Studie konnte deshalb eine über die Jahrzehnte hinweg andauernde Wirkung entfalten, weil in ihr ein eigenständiges systematisches philosophisches Problem mit einer auf Fichtes Texte und deren Verhältnis zueinander bezogenen Fragestellung verknüpft war. Henrichs provokante These war es, dass es Fichte in den verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre nicht gelungen sei, die logische Struktur von Selbstbewusstsein auf konsistente Weise zu erklären. Die Frage nach der Einheit der Wissenschaftslehre und der Kontinuität oder Diskontinuität ihres Entwicklungsgangs sind bis heute zentrale Fragen der Fichte-Forschung. Sie haben durch die nunmehr edierten späten Entwürfe der Wissenschaftslehre eine neue Aktualität gewonnen. Die von Henrich aufgeworfene Frage nach einer konsistenten Theorie von Selbstbewusstsein ist in der analytischen Philosophie des Geistes zu einem zentralen Thema geworden. Dazu hat Henrich u.a. in der Diskussion von Ernst Tugendhats Kritik der idealistischen Theorien von Selbstbewusstsein wesentlich beigetragen. Die Breite des Spektrums der von Dieter Henrich bewegten und angeregten Forschungen und ihre Aktualität dokumentiert der zu Ehren Henrichs konzipierte, 2022 im Verlag Metzler erschienene, von Manfred Frank und Jan Kuneš herausgegebene Band „Selbstbewusstsein. Dieter Henrich und die Heidelberger Schule“. 

Die Fichte-Forschung verdankt Dieter Henrich überdies die Begründung einer Forschungsrichtung, die aus der Konzentration auf das Werk Fichtes herausgeführt und die Untersuchung der Bedeutung Fichtes für die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant auf ein neues methodisches Fundament gestellt hat. Unter dem Stichwort „Konstellationsforschung“ sind Untersuchungen initiiert worden, die sich den vielschichtigen und weit verzweigten philosophischen Debatten in Tübingen und Jena in Naheinstellung gewidmet haben, aus denen sich neue Einsichten in die Bedingungen der Formation von Fichtes Jenaer Wissenschaftslehre ergeben haben. In diesem Zusammenhang sind auch Henrichs Hölderlin-Studien zu sehen. Mit ihnen hat Henrich Hölderlin als philosophischen Autor und Kritiker Fichtes neu entdeckt. 

Nicht zuletzt sind Henrichs eigene systematische Überlegungen zu einer Theorie bewussten Lebens zu nennen. Sie sind aus der lebenslangen Auseinandersetzung mit Fichte hervorgegangen. Das zeigt seine im Jahre 2019 erschienene Veröffentlichung: Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken. Sie enthält einen unveränderten Nachdruck der frühen Studie zu Fichtes ursprünglicher Einsicht. Hier stellt Henrich der Philosophie Fichtes eine alternative, an Hölderlin und auch an Jacobi orientierte lebensphilosophische Theorie der Individualität und Personalität entgegen. 

Jürgen Stolzenberg